Die 21. Amateur WM in Japan
Oita, 7.-26. Juni 1999
Eine Go-Weltmeisterschaftsteilnahme steht zu mindest in meiner Go-Karriere an oberster Stelle, doch teilzunehmen bedeutet deshalb nicht immer eitel Sonnenschein. Das ist mir diesmal besonders deutlich geworden. Nachdem ich mich in der wilden Hoffnung nach Japan begeben hatte, meinen zehnten Platz von 1992 vielleicht gar noch zu verbessern, musste ich diesmal einen herben Dämpfer einstecken. War das Ergebnis vier Siege: vier Niederlagen an sich schon ein höchst jämmerliches, so bugsierte mich eine ungünstige Auslosung ganz besonders weit nach hinten: Die gewonnen Partien waren alles Pflichtsiege gegen die absolut Letzten des Teilnehmerfeldes, die verlorenen hingegen spannende, knappe Partien gegen etwa gleichstarke Gegner, die ihrerseits über fünf Siege nicht hinauskamen. Also kaum Gegnerpunkte der genaue Platz kann leicht auf einschlägigen Net-Seiten abgelesen werden. Als Begründung für meine enttäuschende Leistung kann ich eigentlich nur sagen: Mit zunehmenden Jahren verliert man vielleicht nicht unbedingt an konkreter Stärke im Go, aber offenbar doch an Tournierstärke, d.h. der Fähigkeit, eine Partie bis zum letzten Punkt konzentriert durchzuziehen. Zwei Halb-Punkter gegen mich und eine Niederlage durch Zeit sagen da vielleicht doch was aus. Übrigens schnitten die meisten Europäer meiner Generation mehr oder weniger enttäuschend ab. Gewinner mit einem perfekten 8: 0 Score war Yoo Jae-Sung, ein 18jähriger Koreaner, der 27jährige Chinese Sun Yi Guo, ein Ex-Weltmeister, wurde diesmal nur 7. Wirklich Zeit, daß auch hierzulande wieder wer nachkommt.
Aber genug der Jammerei, abgesehen von den Partien ist so eine Meisterschaft ja doch auch immer ganz interessant und lustig. Heuer war der Veranstaltungsort die Stadt Oita, eine 400.000 Einwohner Provinz-Hauptstadt auf der südlichsten japanischen Hauptinsel Kyushu. Je kleiner die Stadt, umso herzlicher der Empfang, das traf auch diesmal zu. Anläßlich der heurigen Amateur-WM startete die Stadt den Versuch, durch ein Go-Ereignis ins Buch der Rekorde zu kommen: Das "größte Go-Brett aller Zeiten" (Seitenlänge 40m) und die "größte Go-Veranstaltung" (bestehend aus über tausend Teilnehmern) sollten das garantieren. Am Rande dieser gigantomanischen Rekordversuche, die die gesamte Fußgängerzone der Stadt in einen zweitägigen Go-Taumel versetzten, nahmen auch wir internationalen Spieler an einem Freundschaftstournier gegen die lokale Go-Elite teil. Wie immer bei solchen Gelegenheiten wurden die japanischen Teilnehmer aufgefordert, den Gästen gegenüber "höflich" zu sein, wobei ich nie sicher bin, ob dies die zu erwartende Niederlage der japanischen Mannschaft entschuldigen soll, oder ob wirklich manche absichtlich verlieren.
Während der gesamten Meisterschaft ernteten wir viel lokalen Medienrummel. Mijodrag Stankovic, der serbische Vertreter, wurde bereits am Flughafen von Fernsehjournalisten abgefangen und Diana Koszegi, die 16jährige Vertreterin Ungarns, die mit dem bemerkenswerten Score von 6: 2 beste Europäerin wurde, musste täglich mindestens ein Interview geben. Auch der Vollbart von Matthew Macfadyen, die 2m Körpergröße von Paul Schmit aus Luxemburg, oder mein exotischer Beruf (Japanologe) erregten Aufmerksamkeit.
Wie schon bei meiner letzten Teilnahme war Otake Hideo "Chief Referee", d.h. derjenige Profi, der dort das meiste Sagen hatte. Das trägt zur Stimmung bei, denn Otake-Sensei ist nicht nur bekannt für seine pantomimischen Partiekommentare, die wirklich Goldes wert sind, sondern auch für seine Vorliebe für Sake und Karaoke. Dem Karaoke-Singen konnte ich mich zwar diesmal entziehen, aber bei einer informellen Einladung in ein lokales Spezialitätenrestaurant, an der ungefähr die Hälfte der versammelten WM-Spieler teilnahmen, musste ich wie die meisten anderen auch ein Lied aus meiner Heimat zum besten geben. Ich sang Qualtingers "Krüppellied" und erklärte, es handle sich um ein Loblied auf die Qualitäten des goldenen Wienerherzens. Otake entpuppte sich bei dieser Gelegenheit übrigens als geistiger Nachfahre von Julius Cäsar. Er bestand nämlich darauf, daß der wuchtige Serbe Stankovic mit seinen gut hundert Kilo neben ihm Platz nehmen sollte. Cäsars Satz "Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein" variierte Otake auf Japlish: "Ah, biggu man! Kochi, kochi!" (Ah big man, hierher, hierher).
Wie gesagt, macht sich das Temperament des Senseis aber nicht nur bei feucht fröhlichen Anlässen bemerkbar, sondern auch in seinen Partiekommentaren, die oft kaum einer Übersetzung bedürfen und die er meist informell, umgeben von einer Traube von Spielern im Hotel nach den Tournierpartien oder am Abend von sich gab. Eine Bemerkung, die mir davon im Gedächtnis geblieben ist, lautete sinngemäß: "Gebiet? Wer braucht Gebiet? Gebiet ist wichtig am Ende des Spiels, davor ist Gebiet völlig unwichtig." Obwohl alle lachten, war diese Bemerkung keinesfalls unernst gemeint. Jeder Go-Spieler sollte sie im Gedächtnis behalten.
Beeindruckt hat mich in Oita nicht zuletzt die Begegnung mit Fujisaki Kojiro, 6D, einem der stärksten Amateure von Oita. Fujisaki-san ist durch eine rheumatische Krankheit körperlich schwer behindert. Dennoch leitet er einen lokalen Go-Klub und verkehrt auf vollkommen ungezwungene Weise in der Go-Szene. Er ist mit einer Go-Spielerin verheiratet, die als 4Dan ebenfalls zur weiblichen Spielerelite zählt. Frau Fujisaki leidet unter einer ähnlichen Krankheit, aber mit weit geringeren Symptomen. Go ist für die beiden ein echter Rettungsanker. Zusammen unterrichten sie vor allem Kinder und haben dabei offenbar beachtlichen Erfolg. Fujisaki-san erklärte mir, daß er vor allem Freß-Go mit den Kindern spielt und ihnen dabei so viel wie möglich Steine zum Schlagen zuspielt. Erst wenn sie auf diese Weise "angebissen" haben, und ein tieferes Interesse für das Spiel entwickeln, geht er die Sache nach und nach strenger an. Am Anfang aber ist für ihn von oberster Priorität "niemals gewinnen" und "immer nur loben". Nachdem ich bei meinen eigenen Kindern mit der gegenteiligen Methode null Erfolg gehabt habe, werde ich mir Fujisakis Maxime in Zukunft zu Herzen nehmen.
Ein für manche österreichischen Spieler nicht uninteressantes Detail am Rande: Heuer war erstmals auch ein Vertreter aus Madagaskar zugegen, Manitra Haramisa Razafindrabe, 1D. Er spricht nicht nur sehr gut Deutsch, er war auch ein guter Bekannter von Manfred Wimmer, von dem er Go gelernt hat. Wimmer hat also tatsächlich in Afrika Spuren hinterlassen, nicht nur leiblich, sondern auch geistig. Vielleicht lassen sich die Götter des Go, die unsterblichen Weisen, ja doch dazu herab, auf der Insel der glückseligen Go-Spieler ab und zu eine Vorgabe Partie gegen ihn zu spielen.
Pok, Sommer 1999
Dieser Bericht wurde erstmals auf Martin Gomilschaks nicht mehr existenter Website Treasure Chest of Go veröffentlicht