Die 25. Amateur WM in Japan
Kurashiki, 6.-10. Juni 2004
Nach achtjährigem Punktesammeln war es also geschafft, ich war für die WM qualifiziert. Nach Zwischenlandung im einstürzenden Pariser Flughafen traf ich in Japan ein, vorbereitet durch 22 Jahre alte Erinnerungen an meinen ersten Japan-Aufenthalt und durch viele gute Tipps von erfahrenen österreichischen WM-Teilnehmern. Kurashiki liegt 600 km westlich von Tokyo, hat eine halbe Million Einwohner und einen romantischen alten Stadtkern; die Provinz ist bekannt für ihre Pfirsiche und für die längste Brücke der Welt.
Die ersten Tage waren etwas anstrengend (Jet-Lag, Inlandsflug nach Kurashiki, gemeinsames Sightseeing, diverse Meetings, Zeremonien und lokale Festivitäten), aber ich lernte die 63 anderen Teilnehmer und ihre Spielstärke schon ein bisschen kennen und konnte mir ausrechnen, dass ich ungefähr am 25. Platz landen müsste. Die EM 2007 in Villach war übrigens kaum ein Gesprächsthema, wohl weil die meisten nichts darüber wussten. Die Abende blieben der individuellen Gestaltung überlassen, sodass der drohende Kelch von Karaoke-Veranstaltungen an mir vorüberging. Das lag einerseits am allgemeinen Niedergang des Karaoke in Japan, andererseits an Oberschiedsrichter Ishida, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger Otake die Spieler nicht zu feucht-fröhlichen Abenden vergatterte, sondern einfach von der Bildfläche verschwand.
Das Turnier lief für mich ganz ausgezeichnet, zumindest bis zur vorletzten Runde. Ich erreichte vier Siege (gegen teilweise etwas stärkere Gegner) und musste nur drei Niederlagen einstecken (alle gegen übermächtige Gegner, die letztlich mit sechs Siegen unter den Top-Ten landeten). In der dritten Runde spielte ich zum Beispiel gegen den Titelverteidiger Li Fu aus China. Er dachte lang und intensiv nach und setzte zeitweise einen verzweifelten Gesichtsausdruck auf, obwohl er meines Erachtens nie in Schwierigkeiten war. Nach der Partie zeigte er mir dann einen Zug in einer Standardstellung, vor dem er sich zu Recht die ganze Zeit gefürchtet hatte, den ich aber nicht in Erwägung gezogen hatte, weil er in der japanischen Analyse verworfen wird. In der letzten Runde bekam ich schließlich mit Eduardo Lopez Herrero aus Argentinien einen ebenbürtigen Gegner zugelost, sodass ich gute Aussichten auf einen fünften Sieg und damit das beste Abschneiden eines österreichischen Teilnehmers seit vielen Jahren hatte. Tatsächlich lag ich im beginnenden Endspiel klar in Führung und hätte leicht gewinnen können. Tja, hätte! Ich übersah eine offensichtliche Schwäche einer meiner Gruppen, das führte zu katastrophalen Auswirkungen auf meine Stellung und schließlich zu einer 6.5 Punkte Niederlage. Anstelle des 17. Platzes erreichte ich damit nur den ursprünglich erwarteten und mir wohl eher gebührenden 25. Platz.
Den WM-Titel holte sich der Südkoreaner Kang Wook Lee mit acht Siegen anscheinend mühelos. Auch der zweite Platz war in festen Händen. Der 14-jährige Yu-Cheng Lai aus Taiwan, begleitet von seiner Mutter, hatte die 8-Dans aus China (3. Platz) und Japan (5. Platz) meiner Ansicht nach sicher im Griff. Bester Europäer wurde der bisher noch nicht so bekannte junge Franzose Bernard Helmstetter mit dem sensationellen 4. Platz. Bemerkenswert vielleicht noch der Schwede Gustaf Fahl, der als 2-Dan 15. wurde. Der Fighting Spirit Preis wurde dem 9-jährigen Inder Shiba Shaw zugesprochen, der immerhin zwei Partien gewann.
Abgesehen von einer kurzen Phase der Frustration nach der letzten Runde war die WM für mich eines der schönsten und angenehmsten Turniere, an denen ich teilgenommen habe. Organisation, Atmosphäre unter den Spielern und Betreuung durch die japanischen Gastgeber haben gestimmt, ich habe mich die ganze Zeit über wohl gefühlt. Schon während des Turniers habe ich beschlossen, noch einmal eine WM-Teilnahme anzustreben, auch wenn die Qualifikation viele Jahre dauern sollte. (Noch lieber als meine zweite WM-Teilnahme wäre es mir freilich, sie durch junge österreichische Spieler verhindert zu sehen.)
Nach der WM verbrachte ich noch zwei Wochen in Tokyo, wo ich neben Sightseeing- und Shopping-Aktivitäten vor allem die Go-Szene erforscht habe. Die ersten Tage waren etwas enttäuschend, weil ich nur wenige Go-Klubs und nur wenige starke Spieler fand und zudem noch hohe Eintrittspreise zahlen musste. Das änderte sich aber bald gründlich, und in der zweiten Woche konnte ich mich der Einladungen zu Klubabenden (ohne Eintrittspreis), Turnieren, Abendessen und sonstigen Events kaum erwehren. Chizu Kobayashi nahm mich mit zum Go-Unterricht in eine Schule, was einen wohltuenden Kontrast zur überalterten japanischen Go-Szene bildete und wo ich die relative Ruhe bei meinen eigenen Go-Kursen in Wien schätzen lernte. Einige Leute lernte ich näher kennen, und ich stellte fest, wie wenig die Klischeevorstellungen über die japanische Seele im Einzelfall zutreffen müssen (no na!).
Das war also mein Juni 2004. Alles verlief schön und interessant, problemlos und positiv. Japan war wirklich eine Reise wert. Der Rückflug von Paris nach Wien und die Taxifahrt von Schwechat nach Währing konfrontierten mich abrupt mit österreichischen Realitäten, und ich stellte fest, wie sehr die Klischeevorstellungen über die österreichische Seele im Einzelfall zutreffen können (no na!).
Michael Winkler, Juli 2004