Notizen zur österreichischen Go-Geschichte
Gastbeitrag von Alfred Nimmerrichter
Die erste deutschsprachige Darstellung des Go stammt aus dem Jahr 1881. Der Verfasser ist Oscar Korschelt, von dessen Profession es zwei Versionen gibt. Der einen zufolge war er Beamter der deutschen Gesandtschaft in Tokio, in der anderen war er Ingenieur, der in Tokio an technischen Projekten gearbeitet hat. Jedenfalls lag Korschelt mehrere Wochen lang krank danieder und nutzte diese Zeit, um sich von einem bekannten Go-Meister unterrichten zu lassen. Danach beschrieb er das Spiel, ein Lehrbuch wurde daraus aber nicht, es geriet zu einem Sonderdruck der "Mitteilungen der deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens". Der Erklärung des Spiels stellte er dessen historischen Hintergrund voran.
Korschelts Werk fand sicher nur geringe Verbreitung, daher ist es erstaunlich, daß schon ein Jahr später, im Juni 1882, an mehreren Wochenenden Inserate in der Wiener "Neuen Freien Presse" Go-Spielgerät angeboten wurde. In verschiedenen Qualitäts- und Preiskategorien wurde es von R. Lechners k. k. Hof- und Universitätsbuchhandlung, Graben 31, und von der k. k. Hofbuchhandlung Frick, Graben 27, feilgeboten. Die Buchhandlung Frick existiert an gleicher Stelle noch heute.
Go-Gott Jonak
Ein deutschsprachiges Lehrbuch erschien 1908 im Verlag Teubner in Leipzig. Verfasser war der Innsbrucker Universitätsprofessor für Physik, Leopold Pfaundler. Für dieses Buch interessierten sich Offiziere der k. u. k. Marine, in deren Kreisen das Spiel durch Überseekontakte mit Asien und auch durch Korschelts Beschreibung schon bekannt war. Dieses Interesse der österreichischen Marine am Go verdichtete sich in Pola, dem damals wichtigsten Hafen der österreichischen Kriegsmarine, wo einige Offiziere regelmäßig zum Go zusammentrafen. Schauplatz war das dortige Marinekasino, Anführer war Linienschiffsleutnant Jonak von Freyenwald. Selbst die militärischen Erfordernisse des Ersten Weltkriegs konnten Jonak in seiner geradezu fanatischen Werbetätigkeit für das Go nicht bremsen. Das trug ihm bei seinen Kameraden den Titel Go-Gott ein. Er zwang rangniedere Offiziere zum Go-Spielen, oft genug gegen deren Willen. 30 Jahre später berichtete einer der Gezwungenen in seiner Heimatstadt Wien: "Ich gebe zu, daß wir nicht unglücklich waren, als 1917 Jonak mit seinem Schiff "Chamäleon" auf eine Mine auflief und ums Leben kam - so drangsaliert hat uns der Kerl." Jonak ist allerdings nicht mit der "Chamäleon" untergegangen, sondern bei einer Explosion ums Leben gekommen, als im Hafen ein Minenlegeboot beladen wurde. Jonak führte wie beim Go das Kommando und trieb seine Matrosen derart an, daß es zu diesem Unglück kam, bei dem er und acht kroatische Matrosen getötet wurden. Dieser Sachverhalt wurde in einer Kriegsgerichtsverhandlung festgestellt, in der Jonak von Zeugen als "Leuteschinder" bezeichnet wurde.
Von Jonak ist noch eine eher heitere Episode zu berichten. Er hatte sich auf dem Postweg von dem deutschen Go-Pionier Bruno Rüger (Dresden) ein japanisches Go-Buch ausgeborgt. Mit der japanischen Schrift konnte er trotz großer Wißbegier nichts anfangen. In seiner Enttäuschung kam ihm die Erleuchtung: Er hatte einen chinesischen Matrosen an Bord. Sofort ließ er ihn kommen und befahl ihm barsch: "übersetzen!" Der Chinese wurde blaß und stammelte, die Schrift sei japanisch, die könne er nicht lesen. Da schwollen Jonak die Zornesadern an und er brüllte: "Was, du willst mir weismachen, daß die chinesische Schrift etwas anderes ist als die japanische, wo doch jeder die Gleichartigkeit sehen kann? Das ist Befehlsverweigerung, ab mit dem Kerl, anketten im Maschinenraum bei Wasser und Brot." Zwei Tage später sagte Jonak zu einem Offizierskollegen: "Hättest sehen sollen, wie schnell der Chineser das Buch übersetzt hat."
Go in der Zwischenkriegszeit
Nach dem Ersten Weltkrieg kehrten die Go-Jünger der österreichischen Marine in ihre Heimatorte zurück Sie bildeten vor allem in Wien, in Graz und viele Jahre später auch in Ljubljana Go-Zirkel. In Wien gab es aber unabhängig voneinander zwei Strömungen: die Marine und das Physikalische Institut der Universität Wien. Dem Go-Kreis der Physiker gehörten die Professoren Lise Meitner und Steffan Meyer an. Meitner arbeitete später in der Kernforschung bei Professor Hahn in Berlin, mit dem zusammen sie das Element Protactinium entdeckte. Zeitweise war sie auch Assistentin von Max Planck.
In Deutschland warben Felix Dueball und Bruno Rüger unermüdlich für das Go. Dueball, der Spielstärkste, wurde 1930 mitsamt seiner Frau für ein Jahr nach Japan eingeladen, um sich dort in der Kunst des Go zu vervollkommnen. Rüger gab 1920 ein modernes Go-Lehrbuch heraus. Sein Bemühen um eine Neuauflage war erst 1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, von Erfolg gekrönt. Politisch und ideologisch wertlos, hätte es keine Druckerlaubnis gegeben, hätte nicht der damalige japanische Botschafter in Berlin, Oshima, das Vorwort verfaßt. Dadurch paßte das Buch zur vielzitierten Achse Berlin – Rom – Tokio.
Botschafter Oshima stand hoch im Kurs, er sprach gut deutsch, wenn auch mit deutlich hörbarem österreichischem Zungenschlag (insofern unterschied er sich nicht von Hitler). Oshima war im Ersten Weltkrieg in russische Gefangenschaft geraten und arbeitete bei einem Bauern im östlichsten Teil Rußlands. Dort teilte er sein Schicksal mit einem Wiener namens Hahn. Sie freundeten sich an und machten das Beste aus der Situation. Hahn lehrte Oshima die deutsche Sprache, Oshima lehrte Hahn die japanische Sprache. Eines Tages gelang ihnen auf abenteuerliche Weise die Flucht übers Meer nach Japan. Dort schlug Oshima eine diplomatische Laufbahn ein, Hahn bekam dank seiner Sprachkenntnisse einen guten Posten bei Siemens-Tokio. Als Hahn 1922 nach Wien kam, fand er entsetzliches Elend vor. Er heiratete seine Braut, die ihm die Treue gehalten hatte, und schiffte sich schleunigst nach Japan ein. Erst viele Jahre später kehrte er in seine Heimat zurück. Oshima hatte inzwischen eine steile Karriere hinter sich; er spielte als Botschafter in Berlin eine bedeutende politische Rolle, die ihm nach dem Krieg zum Verhängnis wurde. In einem Kriegsverbrecherprozeß wurde er verurteilt.
Während des Zweiten Weltkriegs hatte in Wien der einstige Korvettenkapitän Carl Fröschl bange Stunden zu überstehen. Als früherer Gefolgsmann des Go-Gotts von Pola hatte er in Wien eine kleine Go-Runde gebildet. Da der Kreis immer kleiner wurde, begann er mit einem Hamburger Go-Freund namens Sieber eine Fernpartie zu spielen. Die Go-Steine waren aus Papier, die auf einen Raster aufgeklebt wurden – jeder Zug ein Brief. Dieses für Uneingeweihte merkwürdige Muster erregte den Argwohn der Gestapo. Fröschl wurde in das Gestapo-Hauptquartier am Wiener Morzinplatz beordert und eingehend verhört. Fröschl gelang es, die Herren von der Harmlosigkeit seines Treibens zu überzeugen, doch abschließend wurde ihm bedeutet: "Mag sein, daß es stimmt, was sie sagen, aber unterlassen sie es trotzdem." So endete die Fernpartie Wien – Hamburg abrupt.
Go nach dem 2. Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Reihen der Go-Spieler in Deutschland und Österreich arg gelichtet. In Wien der späten fünfziger Jahre ging der japanische Go-Verband Nihon Kiin mit Hilfe der Diplomatie auf Offensivkurs in Europa. Vier Wiener Go-Spieler, die die Spielstärke eines Amateurmeisters erreicht hatten, erhielten vom Nihon Kiin Meisterdiplome aus der Hand des damaligen japanischen Botschafters in Österreich, Katsumi Ohno. Vor Pressevertretern erklärte der Botschafter das Spiel, seine Geschichte und Bedeutung. Die Unterlagen dafür hatte einer der Diplomierten zusammengestellt, wobei der Botschafter den Verfasser nur in einem Punkt um eine Korrektur ersucht hatte. Im Manuskript hatte es geheißen, das Go sei in China entstanden. Der Botschafter wünschte die Formulierung, das Spiel sei auf dem asiatischen Festland entstanden. Dieser feine Unterschied ergab sich aus der bis heute andauernden Rivalität zwischen China und Japan.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das Go in Europa nur langsam, doch heute ist es in allen europäischen Ländern bekannt und auch organisiert. Es gibt zahlreiche internationale und nationale Turniere, die Anzahl der Spieler hat sich vervielfacht. Es gibt Europameisterschaften, Amateur-Weltmeisterschaften und es gibt Lehrbücher, geschrieben von hervorragenden japanischen Profispielern. Diese Entwicklung leitete der japanische Go-Verband 1963 ein, als er zu einem internationalen Teamturnier nach Tokio einlud. Aus Europa nahmen Deutschland, Österreich, Großbritannien, die Niederlande und Jugoslawien teil. Einem der österreichischen Teilnehmer erzählte Kaoru Iwamoto, einer der japanischen Spitzenprofis, von einem Wettkampf, der tiefe Spuren in seiner Erinnerung hinterlassen hat. Iwamoto: "Es war 1945, als ich im Finale eines wichtigen Turniers auf Hashimoto traf. In der Endphase des Kriegs waren wir zum Kampf aufs Land gezogen, wo es mehr zu essen gab als in den Städten. Mitten in der Partie entstand Unruhe. Wir unterbrachen und erhielten die Nachricht, es sei etwas Furchtbares geschehen. In Hiroshima war die Atombombe gefallen. Nach einiger Zeit der Betroffenheit setzten wir die Partie fort, denn wir waren ja gekommen, um Go zu spielen."
Der Eindruck, daß Go vor allem ein Wettkampfsport sei, ist falsch. Der überwiegende Teil der Go-Spieler in aller Welt genießen die Feinheiten des Spiels im Kampf mit Verwandten, Freunden oder Bekannten. Viele spielen Go noch im hohen Alter, um sich geistig fit zu halten. Bis heute hat sich auch die nahezu hypnotische Wirkung des Go erhalten. Eine alte chinesische Darstellung zeigt einen Patienten, der am Arm operiert wird. Statt einer Narkose läßt man ihn Go spielen. Die Konzentration auf das Spiel ist so stark, daß er die Schmerzen der Operation nicht spürt. Dieses Bild diente zur Illustration eines Artikels über die Geschichte der Anästhesie in einem pharmazeutischen Fachblatt.
Alfred Nimmerrichter
Der vorliegende Artikel wurde mir von Alfred Nimmerrichter am 10. Dezember 2003 zugesandt, und ist hier in leicht gekürzter Form wiedergegeben.