Wie es kam, dass Manfred Wimmer auf der Turnmatte schlief
Eine Art Nachruf
Als ich Manfred Wimmer zum ersten Mal begegnete, trug er einen Anzug. Das ist insofern bemerkenswert als ich ihn später nie wieder in einem Anzug sah. Erst mit der Zeit kam mir der Gedanke, dass Wimmer, als er sich nach langen Jahren in Japan zum ersten Mal wieder unter Wiener Go Spielern zeigte, vielleicht gar kein anderes Kleidungsstück besaß, als einen Anzug. In seinem Anzug wirkte Wimmer streng, abweisend und arrogant. Später, als er sich in der Wiener Go Szene wieder eingelebt hatte, wirkte er heruntergekommen, abweisend und arrogant. Er war kein angenehmer Mensch.
Manfred Wimmer wurde 1944 in Villach, Kärnten, geboren. In den 60er Jahren stieg er zum mit Abstand stärksten Go-Spieler Österreichs auf und wurde sogar dreimal Europameister: 1969, 70 und 74. Er studierte zunächst Mathematik, brach das Studium aber in den frühen 70er Jahren ab und ließ sich als erster westlicher Spieler in Japan zum Go-Profi ausbilden. 1985 kehrte er nach Österreich zurück, arbeitete in Wien als Fremdenführer und verbrachte den Großteil seiner Freizeit im Go-Klub. Er starb 1995 an einem Nierenleiden. Angeblich soll er in Japan verheiratet gewesen sein und in Madagaskar Frau und Kinder hinterlassen haben.
Der Höhepunkt von Manfred Wimmers Go Karriere war zweifellos seine Ernennung zum 2. Profi Dan, im November 1978, nur acht Monate nachdem er im Kansai Kiin, dem westjapanischen Go-Verband, zum ersten Profi Dan gekürt worden war. (Nachzulesen in Go World 12, 1979.) Allerdings erscheinen die Kriterien, aufgrund derer er zum Go-Profi ernannt wurde, etwas rätselhaft. Nach seiner Rückkehr war Wimmer jedenfalls den damaligen europäischen Spitzenspielern, beispielsweise Helmut Hasibeder, deutlich unterlegen und auch ich selbst gewann zuletzt etwa eine von drei Partien gegen ihn. Er selbst erzählte manchmal, dass seine Entwicklung des sogenannten "Wimmer-Josekis" eine Rolle bei seiner Beförderung gespielt hätte. Es mag aber auch sein, dass man ihm als Ausländer die Sache damals doch noch ein bisschen leichter machte, oder dass der Kansai Kiin, dem Wimmer angehörte, den Ehrgeiz hatte, ihren "Westler" erfolgreicher erscheinen zu lassen als James Kerwin, einen amerikanischen Spieler, der im gleichen Jahr im Nihon Kiin zum Shodan ernannt worden war.
Wimmer selbst erzählte zwar einiges über seine Zeit in Japan, es gibt aber Gründe seine Angaben mit Vorsicht zu behandeln. Erstens war er grundsätzlich ein Mensch, der es mit der Wahrheit nicht allzu genau nahm, und zweitens fand seine japanische Go-Karriere ein unrühmliches Ende. Was er sich genau zuschulden kommen ließ, ist unklar, fest steht, dass er in einen Sex-Skandal verwickelt war. Wimmers eigene Version besagt, dass er als harmlosen Nebenverdienst Nacktfotos von japanischen Mädchen machte und auf dem Schwarzmarkt verhökerte. Zur Anklage wegen Vergewaltigung sei es bloß gekommen, weil er dabei mit den japanischen Yakuza in Konflikt gekommen sei. Diese hätten ihm ein Mädchen zugeführt, das später behauptete, von ihm vergewaltigt worden zu sein, während sie sich ihm gegenüber als Prostituierte ausgab. So hätten ihm die Yakuza das Handwerk gelegt. Auf jeden Fall hatte die Sache zur Folge, dass Wimmer nicht nur aus dem Kansai Kiin hinausgeworfen wurde, sondern auch aus Japan. Er muss also gerichtlich verurteilt worden sein. Selbst wenn Wimmers eigene Version stimmen sollte, wirft seine Tätigkeit als Porno-Fotograf immer noch kein allzu positives Licht auf ihn.
Wimmer prahlte übrigens immer wieder mit Sex-Geschichten, nicht nur aus Japan, sondern auch aus Madagaskar, wo er in seinen letzten Jahren stets den Winter zubrachte. Sowohl in Japan als auch in Madagaskar soll er im übrigen verheiratet gewesen sein. Wer sich ein genaueres Bild über sein angebliches Sex-Leben machen möchte, braucht nur den Nachruf des amerikanischen Spielers Sam Sloan zu lesen. In Österreich habe ich Wimmer allerdings nie in weiblicher Begleitung gesehen und eines steht fest: Vor die Wahl gestellt, in den Go-Klub zu gehen oder sexuellen Abenteuern nachzujagen entschied er sich in Wien offenbar doch zumeist für das Go. Und selbst in Madagaskar, das er wahrscheinlich wirklich in erster Linie als Sex-Tourist besuchte, hielt er es ohne Go nicht aus und fand sich örtliche Schach-Spieler, denen er das Spiel beibrachte. Ich habe seine Schüler bei den Weltmeisterschaften in Japan und Korea kennen gelernt, sie spielen mittlerweile als 1 Dan. Neben Südafrika und Marokko ist Madagaskar damit das einzige afrikanische Land, das es zu einer nationalen Go-Organisation gebracht hat. Zumindest in dieser Hinsicht hat Manfred Wimmers fataler Sexualtrieb auch positive Wirkungen gezeitigt.
Manfred Wimmer stand als Mensch wohl keinem in der Wiener Go-Szene wirklich nahe, aber da er viel Zeit im Klub verbrachte, kam es doch zu einer gewissen Vertrautheit. Ich persönlich hatte in dieser Hinsicht ein Erlebnis besonderer Art. Es war 1988, bei der Go-Europameisterschaft in Hamburg. Als mittelloser Student war ich damals mit ein paar anderen jungen Spielern in einer Turnhalle einquartiert, wo uns die Übernachtung nichts kostete. Um zu einem Frühstück zu kommen, ging ich jeden Morgen ins nahe gelegene Kolping Haus, wo andere Go-Spieler, darunter auch Manfred Wimmer wohnten. An einem Morgen erschien Wimmer im Pyjama im Frühstücksraum und wurde daraufhin von einem Kellner darauf aufmerksam gemacht, dass dies nicht der Hausordnung entspräche. Als er sich weigerte, sein Frühstück erst nach dem Umkleiden einzunehmen, erschien die Leiterin des Hauses, um ihm das gleiche mitzuteilen. Es kam zu einem Schreiduell, im Zuge dessen Wimmer irgendetwas von Menschenrechten faselte, sich aber partout nicht auf sein Zimmer bewegen wollte, um sich umzuziehen. Das Ergebnis war, dass er aus dem Kolping Haus hinausgeworfen wurde und ebenfalls in der Turnhalle übernachten musste. Da wir beide keine Schlafsäcke mithatten, teilten wir mit ein paar anderen jüngeren Spielern eine riesige Hochsprung-Matte als Matratze. Ich schlief in den folgenden Nächten sehr schlecht, denn die Matte war dermaßen elastisch, dass ich immer hin und her geschaukelt wurde, wenn jemand sich im Schlaf umdrehte. Wimmers Schnarchen aber entnahm ich, dass ihn das weniger störte. Er war offenbar zufrieden, seinen Willen durchgesetzt zu haben, auch wenn ihn das sein warmes Bett und sein tägliches Frühstück gekostet hatte. Manchmal habe ich den Eindruck, dass er auch auf seinen Rausschmiss aus Japan so reagierte.
Als Wimmer starb, war ich gerade für längere Zeit in Japan, daher kenne ich die Geschichte seines Todes nur aus zweiter Hand. Es ist mir allerdings mehrfach erzählt worden, dass er während einer Go-Partie im Klub starb, mit einem Go Stein in der Hand. Die unmittelbare Todesursache war ein Herzschlag, doch schon zuvor lebte er (wie im übrigen viele Go-Spieler) hoffnungslos ungesund, rauchte und neigte ganz offensichtlich dazu, seine Nierenprobleme und seinen hohen Blutdruck zu verdrängen. Schon ein paar Jahre vor seinem Tod hatte er eine schwere Operation, die er in Gesprächen verharmloste. Ich bezweifle, dass er außerhalb der Go-Szene Freunde hatte, die um ihn trauerten, aber im österreichischen Go hinterließ er, bei allem, was man gegen ihn einwenden kann, eine Lücke. Sein Go war wie sein Charakter nicht besonderes sauber, er neigte zu Overplays und liebte es, seine Gegner mit komplizierten Josekis auf den Leim zu führen. Aber er war auch bereit, seine Wimmerschen Spezialvarianten mit anderen Spielern zu analysieren und sein Wissen zu teilen. Seit Wimmer gibt es in Österreich niemanden mehr, der sich dem Spiel mit der gleichen Besessenheit hingegeben hat. Ich selbst kann ebenso wenig wie andere Spieler meiner Generation umhin, in ihm einen meiner wichtigsten Go-Lehrer anzuerkennen. Und schließlich sollte innerhalb der österreichischen Go-Szene nicht ganz vergessen werden, dass Anfang der Siebziger Jahre der beste Go-Spieler der westlichen Welt der Österreicher Manfred Wimmer war.
Zu guter Letzt gelang es ihm im Jahr vor seinem Tod noch einmal, international auf sich aufmerksam zu machen. Bei den Europameisterschaften 1994 in Maastricht war er der einzige, gegen den die Tourniersiegerin Guo Juan eine Partie verlor. Wimmer belegte schließlich nach Shen Guangji den dritten Platz und war damit der best platzierte Europäer. Aus seiner persönlichen Sicht war er somit ein weiteres Mal Europameister geworden. Die Sache hatte allerdings den Haken, dass Guo Juan damals gerade die holländische Staatsbürgerschaft erhalten hatte und daher trotz ihrer chinesischen Herkunft auch den offiziellen Europameistertitel erhielt. Wimmer wäre nicht Wimmer gegewesen, hätte er dagegen nicht lautstark aber erfolglos protestiert. Wie auch immer, er ließ bei dieser Gelegenheit erkennen, dass ihm sein einstiger Profirang wohl doch zurecht verliehen worden war.
Pok, Dezember 2003