31th World Amateur Go Championship
Hangzhou, 24.-31. Mai 2010
Meine fünfte Teilnahme an den World Amateur Go Championships (WAGC), mein zweites Mal in China. Manches bekannt, vieles neu. Zunächst zu den Neuerungen: Der Flug wird von nun an definitiv nicht mehr vom Veranstalter gezahlt (weil JAL als Hauptsponsor flach gefallen ist), was die Reise natürlich nicht mehr ganz so attraktiv macht. Der Spielort soll ab heuer abwechselnd in China und Japan stattfinden. Der chinesische Weiqi-Verband wird in Zukunft mehr Einfluss auf die IGF (International Go Foundation, offizieller Veranstalter der WAGC) haben, was sich unter anderem dadurch manifestiert, dass der Präsident der IGF seit Eröffnung der Spiele erstmals ein Chinese ist, Herr Chang Zheming.
Dies alles hatte den Vorteil, dass China ganz offensichtlich bemüht war, aus dem 31. WAGC einen ganz besonderen Event zu machen. Man wählte daher als Spielort Hangzhou, was nach einhelliger chinesischer Meinung die schönste Stadt Chinas ist. Dieses Urteil kann man als Europäer nicht gleich nachvollziehen, denn verglichen mit Beijing oder Shanghai ist die Vier-Millionen-Stadt nicht allzu aufregend. Vom historischen Kern ist kaum noch etwas zu sehen, die Wolkenkratzer sind kleiner und weniger als in Shanghai und die Einkaufsstraßen wirken eher provinziell. Aber das Stadtzentrum von Hangzhou grenzt direkt an einen See, den West Lake (Xihu), der wiederum an drei Seiten von kleinen grünen Bergen begrenzt wird und aussieht wie eine klassische chinesische Seidenmalerei, bestückt mit zahlreichen (teils künstlichen) Inselchen und Dämmen, zwischen denen unzählige Dschunken in allen Größen hin und her gondeln. Es ist dieser See, den die Chinesen vor dem geistigen Auge (und sogar auf einem Geldschein) haben, wenn sie Hangzhou zur schönsten Stadt erklären.
Überdies verfügt Hangzhou über eine beeindruckende Geschichte. Als Hauptstadt der Südlichen Song Dynastie muss es im 13. und 14. Jh. mit geschätzten 1 bis 2 Millionen Einwohnern die größte Stadt der Welt gewesen sein und wurde damals von Marco Polo als eine Art Paradies auf Erden beschrieben. Der Schlüssel zur Bedeutung Hangzhous lag in der Tatsache, dass es am südlichen Ende des fast 2000 km langen Kaiserkanals liegt, eine im 10. Jh. (!) fertig gestellte Wasserstraße durch Zentralchina, die noch heute Beijing mit Hangzhou verbindet. Außerdem ist Hangzhou berühmt für den Grünen Tee, der hier geerntet wird, für Seide und für die vielen Tempel und Pagoden in besagten kleinen grünen Bergen.
Spielort
Hangzhou scheint außerdem eine Hochburg des chinesischen Weiqi zu sein. Das Hotel, in dem das gesamte Turnier stattfand, befindet sich im Besitz des örtlichen Go-Klubs und trägt den für Go-Spieler klingenden Namen Tian Yuan, auf Japanisch Tengen, wtl. Mitte des Himmels. Neben der Rezeption prangt denn auch ein überdimensionales goldenes Go-Brett mit einem kniffligen Tsumego-Problem an der Wand. Bis jetzt ist es mir ein Rätsel wie ein lokaler Go-Verband sich so ein Hotel leisten kann. Möglicherweise hat da die chinesische Regierung ihre Hand im Spiel, Genaueres konnte ich allerdings nicht in Erfahrung bringen. Das Hotel ist jedenfalls tipptopp ausgerüstet bis hinauf in den 34. Stock, wo sich ein revolving restaurant befindet, das wir täglich frequentierten.
Einziger Nachteil: die Gegend. Rund um das Hotel ist gerade ein neuer Stadtteil im Entstehen und das mit der in China derzeit üblichen Konsequenz und Geschwindigkeit. In ein, zwei Jahren werden da wohl an die hundert Wohn- und Bürohaustürme in der Größe unseres Hotels stehen, derzeit ist aber erst die Hälfte fertig, die andere noch in Bau. Der öffentliche Verkehr ist noch nicht ausgebaut, man kann also nur mit dem Taxi ins Stadtzentrum gelangen, doch der Weg zurück kann zum Problem werden, da viele Taxifahrer sich hier noch nicht auskennen (nicht zu reden von den Schwierigkeiten, Taxifahrern eine Adresse zu vermitteln, die man nicht vorsorglich in chinesischer Schrift notiert hat). Die Umgebung hat ein bisschen das Flair einer Geisterstadt: es gab zwar eine Filiale von Louis Vitton, aber weit und breit keine Menschenseele, geschweige denn Käufer von ultrateuren französischen Modeartikeln, auf der Straße. Während des Turniers war das alles aber kaum ein Problem für mich, da ich das Hotel ohnehin nicht verließ (es war zudem noch äußerst schlechtes Wetter). Nach dem Turnier mietete ich mich dann noch für zwei Tage im Stadtzentrum ein und konnte in Ruhe den See und seine Umgebung besichtigen.
Turnierbedingungen
Die erwähnte Kürzung des Reisebudgets für die teilnehmenden Spieler hatte zweifellos Folgen. Heuer nahmen nur noch 60 (statt 68) Landesvertreter teil und auch das Niveau der Spieler, die kamen, schien durchschnittlich ein wenig unter dem Schnitt der letzten Jahre zu liegen. Dennoch traf ich auch viele Spieler wieder, mit denen ich scheinbar durch rätselhafte mathematische Perioden in den jeweiligen nationalen Punktesystemen schicksalshaft verbunden bin: Christoph Gerlach aus Deutschland hat bei seinen fünf Weltmeisterschaftsteilnahmen überhaupt noch keinen anderen Österreicher kennen gelernt als mich, Vesa Laatikanen (Finnland), Lesek Soldan (Polen) oder Alexej Lazarev (Russland) traf ich ebenfalls bereits zum fünften oder sechsten Mal, und auch einige junge Spieler wie Ondrej Silt (Tschechien), Pal Balogh (Ungarn) oder Chan Naisan (Hongkong) gehören mittlerweile zu meinen alten WAGC-Bekannten. Schließlich traf ich auch Otake Sensei wieder, mit dem Christoph und ich am ersten Abend sogar eine Partie Pair-Go spielen durften (er spielte gemeinsam mit Freddy Bromback aus Schweden), die wir natürlich höflichkeitshalber verloren...
Wie üblich fand das eigentliche Turnier an vier Tagen mit jeweils zwei Runden statt. Allerdings wurde die Bedenkzeit statt der bisherigen 90 Minuten auf 60 Minuten verkürzt, was die meisten Spieler einschließlich meiner selbst als Nachteil empfanden. Da es außerhalb der Runden nicht viel zu tun gab und noch dazu Spiel- und Wohnort identisch waren, war die Notwendigkeit einer verkürzten Bedenkzeit für uns nicht wirklich nachzuvollziehen. Einige Japan-verwöhnte WAGC Veteranen beanstandeten außerdem die Spielsteine: diese waren (wie in China offenbar üblich) aus Plastik und an einer Seite abgeflacht. Natürlich sind auch mir Glassteine in der üblichen Smarty-Form lieber, aber mein Spiel wurde durch diesen Umstand sicher nicht beeinflusst. Auch die Uhren, die manchen bei der englischen Zeitansage zu laut waren, störten mich nicht. Schwerwiegender war, dass in unserem Hotel während des Turniers auch Hochzeiten gefeiert wurden und dass zu einer richtigen chinesischen Hochzeit offenbar ein ordentliches Feuerwerk mit ohrenbetäubendem Krach gehört. Das konnte einen schon aus der Konzentration werfen und führte außerdem dazu, dass Christoph Gerlach seine Uhr überhörte und seine Partie wegen Zeitüberschreitung verlor.
Der schwerwiegendste Einwand der meisten europäischen Spieler richtete sich aber wie immer gegen das pairing-System. Offenbar ist es der IGF noch immer nicht klar, dass unterschiedlich starke Spieler möglichst am Anfang des Turniers gegen einander antreten sollten, am Ende dagegen möglichst gleich starke. Und dass man dies durch entsprechende pairing-Systeme mit hoher Wahrscheinlichkeit erreichen kann. Ich selbst profitierte zwar diesmal von der Auslosung, indem ich in den letzten beiden Runden gegen 1Kyus antrat und damit sicher meine 5 Siege einfuhr, wirklich sinnvoll erschien mir das aber nicht. Auch kam es beispielsweise gleich in der 2. Runde zu einer Vorentscheidung zwischen Japan und Nordkorea. Auslosungen dieser Art werden in den Berichten auf Ranka und dem AGA Journal diplomatisch als „interesting“ beschrieben (die dortigen Berichte stammen alle von der IGF nahe stehenden Reporterteams), sie führen aber dazu, dass die endgültige Platzierung nur wenig über die tatsächlichen Spielstärkeverhältnisse aussagt. Das Hauptproblem beim diesmal in China verwendeten System lag darin, dass unterschiedliche Spielstärken bei der anfänglichen Auslosung kaum berücksichtigt wurden und dass im weiteren Verlauf nur die Anzahl der Siege, nicht aber die Gegnerpunkte für das pairing herangezogen wurde.
Abgesehen von diesen offenbar unverzichtbaren Eigenheiten der WAGCs war die Organisation des Turniers in Hangzhou aber pannenfrei und sogar vorbildhaft. Es gab auch ein interessantes Rahmenprogramm, auf das ich noch zu sprechen kommen werde.
Ergebnisse und Highlights
Gewonnen wurde das Turnier mit einem makellosen Score von acht Siegen vom koreanischen Repräsentanten Song Hongsuk. Zum entscheidenden Spiel kam es in Runde 5, als Korea gegen China gewann. Der chinesische Repräsentant Wang Chen blieb ansonsten ungeschlagen und belegte Rang 2. Beide spielten nicht gegen Japan, was wahrscheinlich am frühen Verlust Sato Yoheis gegen Nord-Korea lag. Nord-Korea belegte sensationell Platz 3. Sato Yohei aus Japan hingegen unterlag dann in der vorletzten Runde noch einmal überraschend Ondrej Silt und belegte schließlich Rang 8. Silt hingegen wurde mit Platz 5 bester nicht-asiatischer Spieler. Er musste zwar gegen keinen der Asiaten auf den Plätzen eins bis vier antreten, besiegte aber immerhin den taiwanesischen Spieler Chen Cheng-Hsun (Platz 6), der mit elf Jahren der jüngste Teilnehmer war. Platz 7 belegte Balogh Pal. Balogh und Silt waren in der Tat die stärksten Europäer, insofern war das Ergebnis in Ordnung. Beide hatten aber auch viel Glück mit der Auslosung, wenn man bedenkt, dass Balogh nach vier Runden nur zwei Siege hatte, und dass Silt bereits in Runde zwei gegen einen wesentlich schwächer eingeschätzten Gegner namens Bernhard Scheid aus Österreich verlor!
Dieser Sieg war natürlich aus meiner Sicht das Highlight des Turniers. Den entscheidenden Wendepunkt gab es bereits nach einer Joseki-Abweichung, die Silt am Ende der Eröffnung in Schwierigkeiten brachte. Etliche suboptimale Züge meinerseits führten zu einer mehr oder weniger ausgeglichenen Partie im Mittelspiel, bis Silt durch ein Overplay eine Vorentscheidung zu erreichen suchte, was negativ für ihn ausging. Am Beginn des Endspiels fühlte ich mich recht sicher in Führung. Silt war bereits im Byoyomi, ich folgte rasch nach und von da an reihten sich auf beiden Seiten Fehler an Fehler. Ich behielt jedoch die Nerven, ließ Silt die letzten Fehler machen und gewann die Partie schließlich durch Aufgabe mit einer satten 15-Punkte Führung am Brett.
Meine weiteren Partien waren alle ziemlich einseitig. Entweder weil mir die Auslosung zu einem leichten Sieg verhalf oder weil ich einfach schlecht spielte und klar verlor.
Zu den sonstigen Überraschungen des Turniers zählte ein Sieg von Maria Puerta, 3k aus Venezuela, über Lou Wankao, 5d aus Makao. Ich selbst verlor gegen Lou, sein 5d könnte also möglicherweise auch in Europa halten. Seine Niederlage kam offenbar dadurch zustande, dass er seine zentralen Schnittsteine verlor, was die Auferstehung mehrerer toter Gruppen seiner Gegnerin zur Folge hatte. Übertriebene Gier oder schlicht Leichtsinn? Für mich jedenfalls nur erklärbar durch gänzliches Abschalten von Lous analytischer Hirntätigkeit und letztlich ein unerwünschter Nebeneffekt des pairing-Systems.
Rahmenprogramm
Zu den positiven Aspekten des Turniers zählten die luxuriöse Unterkunft und die Verpflegung, nicht nur im eigenen Hotel, sondern auch während zweier Sightseeing Events. Die Küche von Hangzhou, bzw. Shanghai (Hangzhou liegt nur 150km entfernt und damit kulinarisch im selben Gebiet) ist vielleicht nicht nach jedermanns Geschmack, auch mir war sie teilweise zu fett und gleichzeitig ohne allzu starke geschmackliche Höhepunkte. Aber in den verschiedensten Restaurants bekamen wir alles vorgesetzt, was Chinesen für essbar halten, und da war manches dabei, das ich noch nie gekostet hatte, etwa Seegurken, Hühnerfüße, Quallen, Bambusrinde, Entenschnäbel und Hühnerköpfe (letztere wurden von mir allerdings verschmäht). Besonders gut fand ich den Eintopf aus Schweinebauchfleisch, eine lokale Spezialität. Wer das alles zu steil fand, konnte aber durchaus auch von konventionelleren Fleisch- und Fischgerichten satt werden. Shrimps gab es beispielsweise fast immer, allerdings tat sich schwer, wer sie nicht im Ganzen essen mochte. Auf jeden Fall aber bekamen wir alles, was man in Hangzhou unter einem Festmahl versteht, großzügig vorgesetzt.
Der saisonale Sommerregen ließ einen geplanten Abendspaziergang am See nach dem gemeinsamen Restaurantbesuch ins Wasser fallen, nach Ende des Turniers verbrachten wir aber fast einen ganzen Sonnentag am berühmten West Lake, wurden u.a. zur Insel mit den „Teichen, in denen sich der Mond spiegelt“ geschifft und hatten einen herrlichen Ausblick auf See und Stadt von der Leifeng Pagode aus Stahlbeton, die sogar mit Rolltreppe und Lift ausgestattet ist. Der Abend endete mit einem Besuch einer eindrucksvollen Openair-Lichtshow am See: Impressions West Lake. Tänzer und hunderte von Statisten benützten eine Bühne im See, die einige Zentimeter unter der Wasseroberfläche lag, sodass es schien, als ob alle auf der Wasseroberfläche gingen. In dramatisch beleuchteten Bildern wurden Legenden rund um den Westlake von einem renommierten Filmregisseur in Szene gesetzt, teilweise erinnerte mich das alles in der Tat an opulente Eastern a la Kurosawa. Die meisten Go-Spieler, aber auch unsere chinesischen Volunteer-Betreuer, die uns begleiten durften, waren restlos begeistert.
Schließlich hatten wir auch wie bei jedem WAGC ein Freundschaftsspiel gegen die lokale Go-Elite zu absolvieren. In Japan spielt man bei solchen Gelegenheiten meistens gegen angesehene, betagte Mitglieder der örtlichen Go-Gemeinde (sicher nicht immer die stärksten vorhandenen Spieler) und gewinnt. In China hingegen hatten sie sich etwas Neues einfallen lassen: Zum einen erregte eine Abordnung buddhistischer Mönche die allgemeine Aufmerksamkeit, zum anderen eine Gruppe von Nachwuchshoffnungen im Alter von 6-10 Jahren! Mein Gegner war acht, wir spielten eine interessante, wechselhafte Partie und er strahlte über das ganze Gesicht, als er letztlich um einen halben Punkt gewann. Ich hatte so etwas geahnt und freute mich, dass es jedenfalls eine ausgeglichene Partie war. Nach dem Spiel waren wir die besten Freunde und redeten sogar eine ganze Menge mit einander, ohne dass einer wirklich verstand, was der andere sagte. Aber dann deutete er mir, dass er jetzt essen gehen müsse, und das war’s dann.
Fazit
Aus Hangzhou habe ich viel mitgenommen: Tee, seltsame Seidentücher, die uns Go-Spielern geschenkt wurden, Süßigkeiten, deren Geschmack ich erst nach dem Auspacken in Wien ergründen konnte, und eine Bartschere in Kranichform, die ich im ältesten Scherengeschäft Hangzhous mitten im (brandneuen) Altstadtviertel erstand. Vor allem aber viele Erinnerungen und Eindrücke aus einem Land im Umbruch, wo man auf Schritt und Tritt mit unerwarteten Splittern aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konfrontiert wird. Das aus der eigenen Tasche bezahlte Flugticket hat sich auf jeden Fall gelohnt! Auch das eigentliche Turnier hat letztlich überwiegend positive Eindrücke hinterlassen, aber wichtig ist eben doch auch all das Rundherum, wofür das Turnier selbst nichts kann, außer, dass man den Veranstaltern dankbar sein muss, diesen Ort gewählt zu haben. Hangzhou hat mir ein aufregendes, hoffnungsfrohes Bild von China vermittelt und ich hoffe sehr, dass das so bleibt.
Pok, Juni 2010
Der Lachende Buddha, Felsskulptur des Lingyin Tempels.
Meine Lieblingssehenswürdigkeit in Hangzhou
Photo: B. Scheid, 1. 6. 2010