Pok's Go Space

Oskar Korschelt (1853-1940)

Sake, Go und Magnetismus

Es ist wahrscheinlich dem ausführlichen Einführungsartikel Das japanisch-chinesische Spiel Go, ein Concurrent des Schach von Oskar Korschelt aus dem Jahr 1880 zu verdanken, dass das Spiel, um das es auf dieser Website geht, unter seinem japanischen Namen „Go“ im Westen bekannt wurde. Obwohl Ende des 19. Jahrhunderts auch eine Spielbeschreibung der chinesischen Spielvariante Weiqi (Weichi) durch Herbert Giles existierte, war es „der Korschelt“, den die frühen Go-Pioniere zur Hand hatten und der somit für den Aufbau eines ersten Grundstocks an Spielern verantwortlich ist. Korschelt fügte seiner Spielbeschreibung auch einen ausführlichen geschichtlichen Abriss des Go-Spiels bei, der hier (mit meinen eigenen Kommentaren versehen) nachgelesen werden kann.

Wer war dieser Autor, der manchmal irrtümlich auch als „Otto Korschelt“ durch die Literatur geistert? Wie kam er mit dem Go in Berührung und was wurde später aus ihm? Eine Internet-Recherche, die ich 2008 unternahm, hat ergeben, dass Oskar Korschelt zweifellos ein hochbegabtes Multitalent war und auf zahlreichen, höchst unterschiedlichen Wissensgebieten seine Spuren hinterließ. Gleichzeitig fällt eine Neigung zu unkonventionellen Themen und eine gewisse Sturheit oder Verbohrtheit auf, was dazu führte, dass Korschelt trotz seiner Begabungen letztlich ein durchschlagender Erfolg versagt blieb. Obwohl er sich auf anderen Gebieten sicher viel mehr engagierte als für Go, erzielte er letztlich hier seinen nachhaltigsten Einfluss.

Ein dienstbarer Ausländer in Japan

Korschelt wurde 1853 im sächsischen Berthelsdorf, nahe der Grenze zu Polen geboren. Nach Abschluss einer Färberlehre studierte ab 1872 in Dresden und ab 1875 in Berlin Chemie. 1876 arbeitete er kurzzeitig in einer Bierbrauerei. Zusammen mit einem ehemaligen Studienkollegen begab er sich schließlich im Dezember 1876 (also mit erst 23 Jahren!) nach Japan. Dies geschah zweifellos aufgrund einer offiziellen Einladung durch die japanische Regierung, die Leute wie Korschelt als „Kontrakt-Ausländer“ beim wirtschaftlichen und technologischen Aufbau des Landes einsetzte. Korschelt wurde während seines insgesamt achtjährigen Japanaufenthalts von seiner Frau Marie begleitet, die hier drei Kinder zur Welt brachte.

Die sogenannte Meiji-Restauration (1868), also der politische Umsturz, der Japans Modernisierung nach westlichem Muster einleitete, lag damals noch keine zehn Jahre zurück. Bis wenige Jahre vor der Meiji Restauration hatte sich Japan weitgehend von allen ausländischen Einflüssen abgeschottet. Auch in den Jahren nach dem Umsturz waren Ausländer großen Einschränkungen unterworfen und galten vielen Japanern nach wie vor als kuriose Barbaren (was natürlich durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte). Zugleich wurden westliche Institutionen Schritt für Schritt eingeführt. 1877, im Jahr nach Korschelts Ankunft, wurde z.B. eine erste Universität, die Kaiserliche Universität (Teikoku Dagaku, heute Universität Tokyo), gegründet, an der zunächst Zeit besonders viele „Kontrakt-Ausländer“ (oyatoi gaikokujin) tätig waren. Wie der Begriff andeutet, wurden ausländische Experten damals systematisch von der Regierung angestellt. Sie waren zumeist sehr jung und blieben nur ein paar Jahre in japanischen Diensten, bis sie durch japanische Spezialisten ersetzt werden konnten. Obwohl selten in leitender Position, erhielten sie oft höhere Gehälter als ihre japanischen Vorgesetzten. Rund um sie muss es eine große Gruppe begeisterter junger Menschen gegeben haben, die mit aller Energie westliches Wissen aufsogen und in deren Augen Leute wie Korschelt wohl einen beinahe gottähnlichen Status genossen.

Gleich nach seiner Ankunft trat Korschelt seinen Dienst an einer medizinischen Fachschule an, die 1877 zur medizinischen Fakultät der Universität umfunktioniert wurde. Er war somit an der führenden akademischen Institution des Landes tätig. Außer ihm waren damals noch sechs andere Ausländer an der medizinischen Fakultät angestellt, allesamt Deutsche. Unter ihnen befand sich auch der bekannte Mediziner Erwin Bälz (1849–1913), der dreißig Jahre in Japan bleiben sollte und später als kaiserlicher Leibarzt das engste Vertrauen des Kaiserhauses genoss. Auch die meisten japanischen Professoren waren ehemals Gaststudenten in Deutschland gewesen. Die japanische Naturwissenschaft und insbesondere die Medizin war also damals fest in deutscher Hand. Korschelt war dem Fachbereich pharmazeutische Chemie zugeordnet. Seine Position wurde als „Lektor“ bezeichnet, was in etwa einem heutigen Assistenzprofessor entspricht.

Nach seiner Ankunft wurde Korschelt zunächst als Sprach- und Mathematiklehrer eingesetzt. Als im April 1877 die Universität Tokyo gegründet wurde, unterrichtete er dann Chemie und Mathematik. Seine eigene Forschungstätigkeit richtete sich bald ganz besonders auf die Herstellung von Sake. Bereits 1878 veröffentlichte er eine Publikation „On Sake“, in der er sich für die Herstellung von Sake aus Gerste auf der Basis von Bierbrautechniken (mit denen er sich ja bereits in Deutschland beschäftigt hatte) einsetzte. Bald darauf entwickelte er ein neuartiges Verfahren zur Sake-Herstellung mithilfe von Salizylsäure. Diese wurde lange als Konservierungsmittel in der japanischen Sake-Herstellung eingesetzt. Korschelt hinterließ somit Spuren in der Geschichte der japanischen Sakeherstellung, scheint hier allerdings in erster Linie als jener seltsame Ausländer auf, der sich partout in den Kopf gesetzt hatte, Sake nicht aus Reis, sondern aus Gerste herzustellen.

Dennoch waren die meisten von Korschelts Experimenten realitätsbezogen und praxisnah. Nachdem sein Vertrag an der Universität 1879 auslief, wechselte er in die Dienste der Regierung, wo er als wissenschaftlicher Berater des Ministerium für Inneres und später des Ministeriums für Landwirtschaft und Handel für weitere fünf Jahre tätig blieb. Er beschäftigte sich hier unter anderem auch mit Geologie und führte z.B. die erste chemische Analyse eines Meteoriten in Japan durch. Auch in anderen Bereichen wie der Salzherstellung oder der Keramik trug Korschelt entscheidend zur Bekanntmachung westlicher naturwissenschaftlicher Methoden bei. Er veröffentlichte eine Unzahl von Artikeln zumeist auf Deutsch oder Englisch, die von Kollegen aus seinem Umfeld umgehend ins Japanische übersetzt wurden.

Korschelts Go

Wann Korschelt in dieser bewegten und höchst aktiven Zeit seines Lebens die Muße fand, Go zu erlernen, bleibt weitgehend ein Rätsel. Er selbst schreibt dazu lediglich: „Eine lange Krankheit gab mir die nöthige Zeit, um über den uninteressanten Anfang hinwegzukommen und noch jetzt den Unterricht des ersten Meisters in Japan weiter geniessend, bin ich weit genug gelangt, um einzusehen, welch ein edles und dem Schach ebenbürtiges Spiel das Go ist.“ Diese Krankheit muss wohl in seine Universitätszeit gefallen sein, denn seine Spielbeschreibung des Go erschien bereits 1880 in mehreren Nummern der Mittheilungen der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens.

Korschelt wurde jedenfalls tatsächlich vom „ersten Meister in Japan“ Murase Shūhō (1838–1886) unterrichtet. Dieser entstammte dem traditionellen Go-Haus Honinbō, das wie alle anderen Go-Schulen durch den politischen Umsturz seine finanzielle Basis verloren hatte und sich in einer schweren Krise befand. Shūhō strebte zwar eine Modernisierung des Go-Wesens an, übernahm aber kurz vor seinem Tod als 18. Honinbō auch die Würden eines traditionellen Go-Meisters. Dass er sich für einen jungen Ausländer als Go-Lehrer zur Verfügung stellte, war zweifellos ein ungewöhnliches Privileg. Der Grund dafür mag in der besonderen finanziellen Misslage der Go-Meister jener Zeit gelegen haben, es mag aber auch sein, dass Shūhō weiter dachte und die Möglichkeit erkannte, Go über Korschelt auch im Westen bekannt zu machen. Jedenfalls versorgte er ihn mit zahlreichen Beispielen und Informationen, die Korschelt gewissenhaft in seine Spielbeschreibung einarbeitete. Sie enthält einen geschichtlichen Abriss des Go, die Regeln, eine Erläuterung von Fachbegriffen, zwölf Beispielpartien, 146 Go-Probleme von sehr unterschiedlichem Niveau (s.u.), Endspieltheorie und 50 Fuseki Stellungen.

Diese Beispiele und Informationen sind bis heute gültig und wertvoll, das Problem liegt lediglich in der Tatsache, dass sie jeden Anfänger (und wohl auch Korschelt selbst) hoffnungslos überfordern. Dazu kommt, dass Korschelt, der offenbar ein guter Schachspieler war, das Notationssystem des Schachs auch auf das Go anwendete und auf Diagramme weitgehend verzichtete. Ohne ein Go-Brett zur Hand kommt man also bei der Lektüre von Korschelts Schrift nicht allzu weit.

Als das einzige Lehrbuch, das es weit und breit gab, erfüllte „der Korschelt“ aber dennoch seinen Zweck. Er stellte sozusagen einen permanenten Ansporn dar, besser zu werden, um die im Korschelt enthaltenen Informationen endlich zur Gänze zu verstehen. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts, als schon einige didaktisch bessere Einführungen aus Korschelts Buch herausdestilliert worden waren, kritisierten etwa Artur Jonak Korschelts unzureichende Erklärungen, fügte aber hinzu: „Vorläufig ist die Verbreitung des Korschelt die einzige Metode, sich ernste Go-Spieler zu erziehen.“ (Brief vom 15.9.1917). Im englischen Sprachraum wurde das Werk übrigens 1965 unter dem Titel The Theory and Practice of Go allgemein bekannt, und ist bis heute auf dem Markt. Es wurde allerdings bereits 1902 von neuseeländlischen Go Pionieren ins Englische übersetzt.

Rückkehr nach Deutschland

Ende 1884 trat Korschelt nach achtjährigem Auslandsaufenthalt die Heimreise nach Deutschland an. 1885 versuchte er, eine Sake-Fabrik in Hongkong zu etablieren. Schließlich ließ er sich in Zittau nieder, wo er ab 1887 eine Kristall-Soda Fabrik betrieb. Dennoch scheinen Korschelts viel versprechenden Ansätze nach seinem Japan-Aufenthalt ein wenig auf Abwege geraten zu sein. Er begann sich für Magnetismus, Elektrizität und die damals vieldiskutierte Substanz des Äthers (Trägersubstanz des Lichts, die durch die Forschungen Einsteins schließlich obsolet wurde) zu interessieren, nützte diese neuartigen physikalischen Phänomene aber hauptsächlich zum Zwecke der Geistheilung. Er entwickelte einen eigenen „Ätherstrahlapparat“ für die Bestrahlung von Kranken, den er 1891 patentieren ließ und in Leipzig industriell herstellte. 1892 beschrieb er die Funktionsweise seines Apparats in einem Aufsatz mit dem Titel: „Die Nutzbarmachung der lebendigen Kraft des Äthers.“ Aus heutiger Sicht stellen die geistheilerischen Experimente Korschelts wohl eine naturwissenschaftliche Sackgasse dar, es darf aber nicht vergessen werden, dass sich damals auch andere namhafte Wissenschaftler diesem Thema verschrieben. So war etwa Korschelts Zeitgenosse Nicola Tesla (1856-43), der Erfinder des Wechselstroms, unter anderem als Geistheiler tätig und noch der Psychiater und Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957) experimentierte mit ähnlichen Geräten wie sie Korschelt entwickelt hatte. Im übrigen blieb Korschelt in dieser Zeit auch seinem (theoretischen) Interesse an Alkohol treu und versuchte, mit seinen Bestahlungstechniken auch die Haltbarkeit und den Geschmack von Spirituosen zu verbessern.

Auch als Brettspieler blieb Korschelt aktiv, wandte sich allerdings – wohl aus Mangel an geeigneten Partnern – in erster Linie dem Schach zu. In Schachkreisen ist er als Sammler von Schachproblemen in Erinnerung geblieben. Er dürfte eine der größten privaten Problemsammlungen der damaligen Zeit angelegt haben und gab 1913 den sogenannten „gereinigten Alexander“, eine überarbeitete Fassung der Schachprobleme von Aaron Alexandre (1846) heraus. Als Go-Autor trat er allerdings nicht mehr in Erscheinung. Ob er Go praktizierte, ist weitgehend unbekannt. Erst 1924, im hohen Alter von einundsiebzig Jahren, wurde er vom damals aufstrebenden Go-Enthusiasten Bruno Rüger in Leipzig aufgespürt und zu einer Partie überredet, die er allerdings verlor.

Obwohl Oskar Korschelt somit nur einmal in seinem Leben für das Go aktiv war, war es wohl diese Aktivität, die die Erinnerung an ihn bis heute lebendig hält. In seiner epochalen Pinierschrift hat er denn auch eine Bemerkung hinterlassen, mit der er noch heute jedem Go-Spieler aus der Seele spricht, wenn er schreibt:

Eine besondere Schönheit des Gospiels, die das Schach nicht hat, liegt darin, dass man grosse Verluste, die man während des Spiels erleidet, zu einem Mittel machen kann, dafür auf einer anderen Stelle des Bretts oft ziemlich bedeutende Vortheile zu erringen (durch das sogenannte Ko). Ein Spiel ist um so interessanter, je häufiger die Aussichten auf Sieg oder Niederlage wechseln und je weniger man sicher ist, das errungene Uebergewicht, das den Sieg bedingt, auch bis zu Ende behaupten. Dieses Schwanken der Chancen giebt ja den Kartenspielen ihren Reiz. Beim Schach wechseln die Chancen nicht oft, nur selten mehr als zweimal, beim Go dagegen viel häufiger. Gerade am Ende des Spieles wird beim Go oft nahezu im letzten Momente durch ein geistreiches Manöver die schon ganz sicher scheinende Niederlage in Sieg verkehrt. So wird das Go, obgleich es ebenso wie das Schach ein Spiel ist, in dem die Zufälle des Glücks gar nicht, sondern nur Umsicht und Scharfsinn entscheiden, dennoch mit mehr Leidenschaft gespielt werden können, als das Schach und darum interessanter als dieses sein.

 

Pok, Dezember 2008 (mit späteren Ergänzungen)

 

Beispiel-Probleme aus dem Korschelt

probleme 5 und 6
Schwarz zieht und lebt
probleme 19 und 20
Schwarz zieht und lebt

Die Probleme aus Korschelts Schrift sind von sehr unterschiedlichem Niveau (5K-6D) und deshalb didaktisch nicht auf dem heutigen Stand. Zur Illustration sind hier vier Probleme angeführt, die jeweils einem ganz anderen Schwierigkeitsgrad entsprechen, obwohl sie unmittelbar auf einander folgen. Die Probleme sind gobase.org entnommen und dort auch inklusive Lösung nachspielbar.