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Vom Getöne der Steine

Eine Anthologie chinesischer Weiqi (Go) Legenden von Luo Ti-lun

Unter dem Titel Weiqi - Vom Getöne der schwarzen und weißen Steine hat der chinesische Germanist Luo Ti-lun eine kleine Sammlung von Legenden zum altehrwürdigen Spiel Weiqi (hierzulande besser bekannt unter seinem japanischen Namen Go) herausgegeben, die dem Leser das Vergnügen am Weiqi und zugleich die kulturelle Bedeutung dieses Spiels in China nahe bringt. Von einer kurzen Einleitung abgesehen lässt der Autor die Geschichten für sich selbst sprechen. Ganz bewusst sind die einzelnen Erzählungen kunterbunt aneinander gereiht und gehorchen insbesondere keiner chronologischen Abfolge. Dadurch entsteht das Bild einer transhistorischen Bedeutung des Weiqi in China. Dieser Eindruck mag zwar einer genauen Überprüfung nicht immer standhalten - auf Blütezeiten des Spiels folgten auch Rückgänge -, fest steht aber, dass das Spiel in China nie ganz an Bedeutung verlor und sein kulturelles Prestige immer wieder erneuert wurde. Gerade die jüngere Geschichte zeigt dies auf anschauliche Weise: In der Kulturrevolution als reaktionäre Betätigung gebrandmarkt, erfährt Weiqi seit den späten 80er Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung.

Weiqi am Kaiserhof

Weiqi gehörte im alten China zum klassischen chinesischen Bildungsideal, das vier Künste, nämlich Zitherspiel (oder allgemeiner Musik), Weiqi (Brettspiel), Schrift (Kalligraphie) und Bild (Malerei) umfasste, war also ein Spiel der Bildungseliten. In Luos Getöne lässt sich dies anhand zahlreicher Anekdoten von Partien am Kaiserhof aus den unterschiedlichsten Dynastien anschaulich erkennen. Neben lapidaren Erwähnungen von hochkarätig besetzten Tournieren, denen der Kaiser beiwohnte (Der erste Pokal-Wettkampf in der Geschichte des Weiqi), sind auch einzelne ausführlich beschriebene Partien von höchster politischer Brisanz zu finden, etwa jene aus dem Jahr 848, bei der ein japanischer Prinz dem kaiserlichen Weiqi Meister arg zu schaffen macht (Eine brillante Partie von historischer Bedeutung). Diese Legende ist sogar mit einem Diagramm der Partie versehen, der entscheidende Spielzug, der den chinesischen Meister aus einer verzwickten Situation befreite und zugleich den Sieg brachte, ist in der Tat wunderschön: ein „zweifacher Treppenbrecher“, im modernen Spielerjargon.

Weiqi erscheint in diesen Legenden als verbindlicher Gradmesser intellektueller Befähigungen und zugleich als Schlüsselqualifikation für Staatsämter in Militär und Verwaltung. Auch Frauen waren unter den Weiqi Meistern des alten China (Der junge Taoist wirbt um eine Frau, Das grün gekleidete Mädchen), mussten aber mitunter ihre geschlechtliche Identität verbergen, um an Wettkämpfen teilnehmen zu können (Der falsche Beamte).

Weiqi und Religion

Neben der gesellschaftlichen Bedeutung des Weiqi fällt in vielen Legenden ein starker Bezug zur Religion auf: Das Spiel ist quasi ein Erkennungszeichen taoistischer Unsterblicher, die man zumeist in freier Natur vor einem aus dem Felsen gehauenen Brett sitzend in eine Partie Weiqi versunken antrifft. Allerdings verrät eine Legende, dass es für Aspiranten des Tao zwar günstig ist Weiqi zu spielen, aber weder hinreichend noch notwendig, das Spiel besonders gut zu beherrschen (Der Sieg eines irdischen Meisters über die Unsterblichen). Auch mit buddhistischer Erleuchtung ist das Spiel vereinbar: Ein tausendjähriger Affe, der unter anderem Weiqi meisterlich beherrscht, erhält durch einen Spielzug einen schicksalshaften Wink, dass seine Zeit auf Erden zu Ende ist, und erfährt eine Art buddhistischer Apotheose (Der alte Meister Affe). Ein Sohn aus gutem Haus verzichtet auf eine Beamtenkarriere und schlägt sich statt dessen als unterdurchschnittlicher vazierender Weiqi-Spieler durch (auch solche gab es also!). Später wird er buddhistischer Mönch (Das Weiqi-Leben des Herrn Ang).

Doch trifft Weiqi nicht nur auf gesellschaftliche oder religiöse Anerkennung. Ein Gelehrter, der über dem Spiel (das er obendrein nur mäßig beherrscht) seine Kindespflicht vernachlässigt, wird vom buddhistischen König der Unterwelt mit frühem Tod und Wiedergeburt als „Hungergeist“ bestraft. Er erhält zwar die Chance, sich noch einmal unter die Lebenden zu mischen, um seinen Fehler wieder gut zu machen, verfällt aber erneut dem Weiqi und muss daher ein Hungergeist bleiben (Der Gespensterspieler). Vor den negativen Konsequenzen der für Weiqi Spieler typischen Selbst- und Weltvergessenheit ist auch der Kaiser nicht gefeit. Als er, ganz in eine schwierige Partie verstickt, das Wort „Töten“ von sich gibt, wird dies irrtümlich als Befehl aufgefasst, einen Meister, der dem Kaiser bei seiner Partie eigentlich beistehen sollte, hinzurichten („Töten!“). Die Weltvergessenheit spiegelt sich aber am allerdeutlichsten in der berühmten Legende vom Holzfäller, der Zeuge einer Partie Unsterblicher wird (in dieser Legendenversion sind es Kinder). Am Ende der Partie ist seine Axt vollkommen morsch und er muss erkennen, dass er Jahrhunderte lang in den Anblick der Partie verharrt ist (Der Berg „Die morsche Axt“). Die Legende hat nicht nur einem Berg den Namen gegeben, „morsche Axt“ (chin. lanke, jap. ranka) wurde auch zu einem der zahlreichen Beinamen des Spiels.

Fazit

Luos Anthologie ist von einem Weiqi Liebhaber für andere Weiqi oder Go Liebhaber geschrieben. Die meisten Geschichten sind zum ersten Mal in eine westliche Sprache übersetzt und dienen ausgezeichnet als Einführung in ein weitgehend unbekanntes Spiel und seine noch weniger bekannten kulturellen Dimensionen. Auf wissenschaftliche Überprüfbarkeit der Quellen oder der einzelnen Übersetzungen (wie dies der Reihentitel „Historisch anthropologische Studien“ vermuten lassen würde) legt der Autor dagegen kaum Wert. So finden sich zwar Quellenbelege am Ende des Buchs, doch ist nicht ersichtlich, welche Geschichten welchen Werken entstammen. Auch in den Übersetzungen steht sprachlicher Fluss vor inhaltlicher Genauigkeit. Eine der wenigen Stellen, wo dies auch für passionierte Spieler wie mich zu nicht nachvollziehbaren Ergebnissen führt, findet sich auf S. 46, wo es heißt: „Der Affe hatte das Guanzi versehentlich nicht mit zwei Punkten, sondern nur mit einem Punkt eingenommen!“ Ich vermute, es geht dabei um eine Pattstellung (Seki). Hier hätte man vielleicht doch einen deutschsprachigen Spieler in die Übersetzungsarbeit einbeziehen sollen.

Im allgemeinen bedient sich Luo aber einer klaren natürlichen Ausdrucksweise, ohne künstliche Altertümeleien, die übersetzte Märchen und Legenden aus anderen Kulturen oft schwer lesbar machen. Er stellt damit seine Kompetenzen als Germanist eindrucksvoll unter Beweis. Die Lektüre wird daher nicht nur für Weiqi/Go Enthusiasten, sondern auch für allgemein an China Interessierte gewinnbringend und vergnüglich sein. Ganz nebenbei verfolgt der Autor wohl auch dezent das Ziel, den Einfluss der japanischen Go Szene durch Hinweis auf Ursprung und Bedeutung des Spiels in China sowie durch die Verwendung chinesischer Termini auszubalancieren (s.a. das Nachwort mit Fotografien der heutigen chinesischen Spitzenspieler). Zwar werde ich mich in Hinkunft nach wie vor als „Go“ Spieler bezeichnen, doch empfinde ich es als Bereicherung, dass neben historischen Quellen zur Weiqi Geschichte nun auch chinesische Anekdoten und Legenden in westlicher Sprache zur Verfügung stehen und der sagenumwobenen Bedeutung des Spiels Substanz verleihen.

Das einzige Manko dieses Buches liegt in der nachlässigen Edition, besonders was Weiqi Diagramme betrifft. So enthält das erwähnte Diagramm mit dem doppelten Treppenbrecher (S. 69) auch Stellungen, die mit der Legende in keinem Zusammenhang stehen. Noch verwirrender sind die Diagramme zur Erklärung der Spielregeln (S. 35), die einzelne Spielsteine schlichtweg in der falschen Farbe zeigen und daher nur in die Irre führen. Dem Grundanliegen des Buches, dem Spiel selbst zu mehr Bekanntheit und Ansehen auch im Westen zu verhelfen, sollte dies aber keinen allzugroßen Abbruch tun.

In seinem Vorwort bemerkt der Wiener Philosoph und Schachspieler Ernst Strouhal, dass die eigentümliche Ethik von Spielen wie Weiqi oder Schach in ihrer kulturellen Grenzen- und Identitätslosigkeit liegt (S. 16); dass also Weiqi oder Schach keiner Kultur mehr als einer anderen „gehören“ und man sich über alle kulturellen Grenzen hinweg auf dem Spielbrett verständigen kann. Man muss zweifellos die chinesische oder japanische Kulturgeschichte des Spiels nicht kennen, um sich von Weiqi/Go fesseln zu lassen. Hat man sich aber einmal fesseln lassen, ist es umso reizvoller, die eigenen Erfahrungen als Spieler in den chinesischen Legenden mit ganz neuen kulturellen Interpretationen wiederzufinden: Beispielsweise die sprichwörtliche Weltvergessenheit der Weiqi Spieler als Zustand der Erleuchtung buddhistischer oder taoistischer Heiliger.

Pok, Juli 2005

Bibliographische Angaben:
Luo Ti-lun, Weiqi - Vom Getöne der schwarzen und weißen Steine. (Historisch-anthropologische Studien, Band 16) Frankfurt/Main: Peter Lang Verlag, 2002. 133 S.
Die vorliegende Rezension ist die leicht abgeänderte Fassung eines Rezensionsartikels, den ich 2002 im Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 26 (S. 276-279) veröffentlichte.